14 Mar 2024  |  Galumalemana Steven Percival & Eliza Encheva-Schorch

Seu und die Magie des Waldes, Teil 3: Ein kostbares Kind

If you've missed the beginning of Galumalemana Steven Percival's story Seu and the Ruffled Bird Catcher, you can read its German translation (part 1 and part 2) in our blog!

Seu und die Magie des Waldes (Teil 3 von 3)

von Galumalemana Steven Percival

Übersetzung: Eliza Encheva-Schorch
Lektorat: Susanne Darabas
Illustration: Kate Delaney

PATIS SCHLECHTE HANDSCHRIFT

Es dauerte drei Samstage, bis Pati Seus Geschichte aufgeschrieben hatte. Er schrieb sehr langsam und musste sie immer wieder bitten, eine Pause zu machen, um hinterherzukommen. Als er noch zur Schule ging, sagte sein Lehrer immer, er habe eine schlechte Handschrift. Pati war froh, dass Seu sie nicht sehen konnte. Aber er genoss die Herausforderung des Schreibens.

Am Ende der vierten Woche setzte Seus Herz für einen Moment aus, als sie die Glocke zum Schulschluss läuten hörte. Es war der Tag, an dem die Kurzgeschichten eingesammelt werden sollten, und sie musste einen Weg finden, ihren Aufsatz in den Stapel auf dem Lehrerpult einzuschmuggeln. Als der Rest der Klasse das Zimmer verließ, packte sie langsam ihre Tasche und hörte aufmerksam zu, was ihre Lehrerin tat. Sie wollte gerade die Hoffnung aufgeben, als ein Schüler hereinstürmte, um der Lehrerin mitzuteilen, der Schulleiter wollte sie in seinem Büro sprechen. 

Da sonst niemand im Raum war, schnappte sich Seu ihren Aufsatz und ging schnell nach vorne. Einen Moment lang dachte sie, die Lehrerin hätte die Papiere mitgenommen, aber sie fand erleichtert den Stapel auf dem Schreibtisch. Sie steckte ihre Geschichte ganz unten in den Stapel und verließ schnell die Schule, aufgeregt darüber, dass Freitag war und sie Pati bald von ihrer erfolgreichen Mission berichten konnte. 

„Warum bist du heute so glücklich?“, fragte ihre Mutter, als sie nach Hause kam. 

„Weil ich es einfach bin“, antwortete Seu und wollte nichts weiter sagen, da sie fürchtete, ihr Geheimnis sonst aus Versehen preiszugeben. Ihre Mutter hatte entschieden, dass sie nicht an dem Wettbewerb teilnehmen durfte, und sie hatte Angst, es würde sie aufregen, wenn sie erfuhr, dass Seu nicht auf sie gehört hatte. 

Natürlich gefiel es Seu nicht, dass ihre Lehrerin, einige Mitschülerinnen und Mitschüler und sogar ihre eigene Mutter dachten, sie könne nicht an dem Wettbewerb teilnehmen, nur weil sie blind war. Sie war ein Mensch wie jeder andere und wollte auch so gesehen werden. Fast alle sahen zunächst einfach nur ihre Blindheit, anstatt erfahren zu wollen, wer sie wirklich war. Das machte sie auf eine seltsame Weise unsichtbar, so als wären es die anderen, die in Wirklichkeit blind waren. 

Am nächsten Morgen erzählte sie Pati, dass sie es geschafft hatte: Sie hatte ihre Geschichte eingereicht! Beide waren begeistert, und sie verbrachten den Tag damit, die Höhle zu erforschen, in der die von Pati gerettete Fledermaus nun zufrieden lebte. Pati war wieder einmal erstaunt, wie schnell sich Seu in der Dunkelheit fortbewegen konnte. Manchmal schien sie sich mit dem Pe'ape'a zu unterhalten, der in der Höhle lebte. Später machte er sie mit dem Albino-Aal bekannt, der vergnügt um Seus Hand herumschwamm. Als Pati sich die Augen des Aals genau ansah, stellte er fest, dass sie weiße Wolken enthielten, wie Seus linkes Auge, und dass der Aal vielleicht auch blind war.  „Wow“, murmelte er, „das habe ich gar nicht bemerkt.“

„Was?“ fragte Seu. 

„Ich glaube, der Aal ist blind.“ Es war nicht das erste Mal, dass ihn das unheimliche Gefühl beschlich, dass alles miteinander verbunden war, eine Art Netz des Lebens, das den gesamten Wald umschloss. 

Die Kurzgeschichten wurden noch am selben Tag nach Apia geschickt. Der erste Schritt im Auswahlverfahren war die Sichtung durch Lehramtsstudierende der Nationalen Universität von Samoa. Sie waren die ersten Leserinnen und Leser der über 400 Aufsätze, die aus dem ganzen Land eingegangen waren. Mit Hilfe ihrer Professorin wählten sie die besten sechs Geschichten aus, die dann an das Bildungsministerium und einen Bildungsexperten der internationalen Organisation UNESCO weitergeleitet wurden. 

Die Lektüre war für die Studierenden sehr anstrengend, und die Professorin wählte oft Aufsätze für Gruppendiskussionen aus, in denen sie die Stärken und Schwächen einer bestimmten Geschichte hervorhob. 

Eine junge Studentin namens Tina bekam Seus Geschichte zu lesen, und war sofort von der schlechten Handschrift abgestoßen. Nachdem sie Schwierigkeiten hatte, den ersten Absatz zu lesen, gab sie auf. Sie legte die Geschichte zu dem Stapel von Aufsätzen, die ihrer Meinung nach mangelhaft waren, und vergaß, am Ende einen Kommentar zu schreiben. 

Als die Sitzung beendet war, begann die Professorin, beide Stapel durchzusehen. Der kleinere Stapel enthielt die von den Studierenden empfohlenen Aufsätze, der andere Stapel die abgelehnten. Die Professorin blätterte zuerst durch den Stapel mit den abgelehnten Arbeiten und stieß dabei auf Seus Aufsatz. „Sehr schlechte Handschrift“, murmelte sie. Aber die ersten Absätze hatten etwas Merkwürdiges an sich, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie blätterte zur letzten Seite, um zu sehen, was die Studentin zu Handlung und Stil gesagt hatte, und war überrascht, dass sie nichts fand. 

„Kein Kommentar? Das ist seltsam.“

Sie kehrte zur ersten Seite zurück und begann, die Geschichte zu lesen. Es ging darin um einen Hüter, der das Gleichgewicht in Wäldern, Höhlen und Flüssen aufrechterhält. Am Ende der zweiten Seite hatte sie einen ruhigen und schönen Wald voller Vögel und Heilpflanzen vor Augen, in dem alles in Harmonie mit den Menschen im Dorf lebte. Das heißt, bis Jäger in den Wald kamen und drohten, Pe'a (Fledermäuse) und Manumea zu töten.   

Der Hüter des Waldes besaß seltsame Fähigkeiten, er konnte mit Flüssen, Bäumen und allen anderen Wesen kommunizieren. Fledermäuse baten ihn, den Menschen im Dorf mitzuteilen, dass Eindringlinge das heilige Gleichgewicht im Wald störten. Die Dorfältesten riefen den Hüter zu einem Fono (einem Dorfrat) ein, und gemeinsam legten sie Regeln zum Schutz des Waldes und seiner Lebewesen fest. Das Gleichgewicht wurde wiederhergestellt. 

Die Professorin las die Geschichte zu Ende und dachte an das Dorf ihrer Kindheit. Sie erinnerte sich, wie viele Vögel es dort gab und dass auch sie besonders gern den melodischen, fast menschlichen Rufen des Ma'oma'o gelauscht hatte. Seit vielen Jahren schon hatte sie den Vogel nicht mehr gehört. Am Wochenende kehrte sie in ihr Dorf zurück, aber der Ma'oma'o rief nicht mehr nach ihr. Sie fühlte einen großen Schmerz. In der Hektik der Stadt hatte sie vergessen, dass der Vogel überhaupt existierte. Ihr Onkel erzählte ihr, dass es noch einige Ma'oma'o gab, die sich aber ins Landesinnere zurückgezogen hatten – weit weg von den Menschen, die das Ökosystem und den Lebensraum der Vögel immer weiter zerstörten. Sie entdeckte auch, dass der steigende Meeresspiegel den einst blühenden Mangrovensumpf flussaufwärts drängte. In dem Sumpf hatte es von Fischen, Schlammspringern, Krebsen, Aalen und vielen anderen faszinierenden Lebewesen gewimmelt, er war für sie als Kind wie ein riesiger Spielplatz gewesen. Beim Anblick der wenigen verbliebenen Bäume wurde sie noch trauriger über die Schätze, die für die Kinder des Dorfes verlorengegangen waren. 

Die Geschichte verfolgte die Professorin das ganze Wochenende. Sie träumte sogar von einem Ma'oma'o, der sie wiederholt vor den Folgen der Waldzerstörung warnte. Als sie am Montagmorgen die Universität betrat, war die müde Dozentin zu dem Schluss gekommen, dass diese Geschichte trotz ihrer schlechten Handschrift eine nähere Betrachtung wert war. 

„Wer hat diese Geschichte von Gauigatā La'aito'elau aus der Vaovai Grundschule gelesen?“, fragte sie ihre Studierenden. Tina, die sich nicht an den Namen erinnerte, aber die schlechte Handschrift erkannte, hob langsam die Hand. Sie hatte sie nicht wirklich gelesen. 

„Sie haben sich nicht dazu geäußert. Wie hat Ihnen die Geschichte gefallen?“

„Es tut mir leid, ich fand die Geschichte nicht gut, weil die Handschrift so schlecht war.“

„Wir bewerten nicht die Handschrift. Das ist ein Kurzgeschichtenwettbewerb, und wir sind hier, um die Handlung und den Gebrauch der Sprache zu beurteilen. Haben Sie die Geschichte überhaupt gelesen?“

„Nein.“ 

„Ich verstehe. Ich möchte, dass Sie alle – der gesamte Kurs – diese Geschichte lesen und mir morgen Ihre Kommentare dazu geben.“

EIN GEHEIMNISVOLLER GEWINNER

Tevita Fifita, der Bildungsexperte im UNESCO-Büro in Apia, erhielt eine Woche später einen Anruf von der Universität. Die Meldung war einfach: „Wir haben die sechs unserer Meinung nach besten Aufsätze ausgewählt.“ Sie wurden ihm für die nächste Phase des Prozesses übergeben. 

Nachdem er sie gelesen hatte, fotokopierte Tevita jeden Aufsatz und veranlasste, dass sie an drei samoanische Autoren geschickt wurden. Der eine studierte Pazifische Literatur in Auckland, der andere lehrte an einer Universität in Wellington und der dritte, der in Samoa lebte, war bekannt für seine Kenntnisse der samoanischen Sprache und Kultur. Diese drei sollten über die Rangfolge der sechs Geschichten entscheiden. Nachdem sie die Hürde der schlechten Handschrift überwunden hatten, war jeder von ihnen beeindruckt von der Geschichte über den Hüter des Waldes. Jeder hatte Erinnerungen an eine Kindheit in einer naturnahen Umgebung. Jedem von ihnen wurde klar, wie viel sie verloren hatten und vermissten, als ob die Worte der Geschichte eine geheime, lange verschlossene Tür geöffnet hatten. 

Innerhalb einer Woche, nachdem die UNESCO die Unterlagen erhalten hatte, wurde die Nachricht im nationalen Fernsehen gesendet, dass drei Aufsätze ausgewählt worden waren und einen Preis erhielten. Die Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer in Seus Dorf konnten es nicht glauben, als sie hörten, dass ein Schüler aus ihrem Dorf den ersten Preis gewonnen hatte. 

„Wer ist dieser Gauigatā La'aito'elau?“, fragten sie sich. 

„Das muss ein Irrtum sein“, sagten sie. „Diese Person gibt es in unserem Dorf nicht.“

Am nächsten Morgen traf sich der Direktor der Schule mit Seus Lehrerin. „Wer ist dieser Schüler?“, fragte er. 

„Es tut mir leid, aber ich weiß es nicht“, antwortete sie ehrlich. „In meiner Klasse gibt es niemanden mit diesem Namen.“

In der Pause sprachen alle Kinder über den Siegerbeitrag, geschrieben von einem Schüler, den es gar nicht gab. Seu hatte die Gerüchte auf dem Weg zur Schule gehört. Ihr Herz raste und sie hatte Angst. So weit voraus hatte sie nicht gedacht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Arbeit unter die besten sechs kommen würde, geschweige denn, dass sie den Wettbewerb gewann. 

„Jetzt stecke ich in Schwierigkeiten“, sagte sie zu sich selbst. 

Als ob es helfen würde, nicht aufzufallen, schnalzte Seu an diesem Tag kein einziges Mal mit der Zunge. Sie blieb ganz für sich. 

Als sie am Nachmittag nach Hause kam, war das Rätsel in der Schule immer noch nicht gelöst, trotz der Bemühungen des Schulleiters, der den ganzen Tag mit vollen Körpereinsatz versucht hatte, es herauszukriegen, und sich mächtig aufgeregt hatte. 

Ihr Großvater erwartete Seu. Als er zum ersten Mal in den Nachrichten davon gehört hatte, entstand in seinem Kopf ein Verdacht: Der Name des Preisträgers war eine Kombination der Namen aus der alten Geschichte, die Talu seiner Enkelin erzählt hatte. Seu musste die Autorin sein.

Behutsam nahm er sie bei der Hand und führte sie zum Rand der Klippe, wo der Gogo einst gelandet war, und wo er begonnen hatte, ihr die Geschichte des Vogelfängers zu erzählen, der die Herzen zweier schöner Jungfrauen gewonnen hatte. 

„Im Dorf wird viel über die Geschichte geredet, die in eurer Schule geschrieben wurde und die den Wettbewerb gewonnen hat. Weißt du etwas darüber?“

„Nein, Opa“, flüsterte Seu, die ihm die Wahrheit sagen wollte, aber nicht wusste, wie. 

Der alte Mann blickte hoch und sah zu seiner Überraschung zwei Vögel, die am Himmel kreisten. Gogos. Der eine war schwarz, der andere weiß. Das verwirrte den alten Mann. Es war, als ob die Vögel ihm etwas sagen wollten, aber er wusste nicht, was. 

„Du sagst es mir doch, wenn du etwas weißt, nicht wahr, mein Kind?“

„Opa“, begann sie, dann platzte es aus ihr heraus: „Es ist meine Geschichte! Es tut mir leid. Ich wollte nicht lügen. Ich habe ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass ich gewinnen würde! Pati hat mir geholfen.“

„Du hast es gut gemeint, und ich weiß, dass du mit den anderen Kindern am Wettbewerb teilnehmen wolltest. Es war falsch von deiner Lehrerin, dich nicht zuzulassen, weil du blind bist.“ Er blickte wieder zu den Vögeln. Sie flogen direkt über ihm im Kreis. Jetzt verstand er ihre Botschaft.

Am nächsten Morgen trafen Vertreter des Bildungsministeriums in der Schule ein. Anwesend waren Tevita von der UNESCO, die Professorin der Universität mit ihren sechs Studierenden des letzten Studienjahres, Teams der beiden Fernsehsender sowie Zeitungs- und Radioreporterinnen und -reporter. Sie wussten nicht, dass die Schule nicht in der Lage war, das Rätsel zu lösen, wer die Geschichte geschrieben hatte. 

Sie verbrachten viel Zeit im heißen und stickigen Lehrerzimmer, um die Situation zu besprechen. Schließlich beschloss der Schulleiter, dass es am besten wäre, eine Versammlung abzuhalten und die Schülerinnen und Schüler einfach zu fragen, ob jemand von ihnen die Geschichte unter falschem Namen eingereicht hatte. 

„Das ist eine sehr ernste Angelegenheit“, begann er seine Ansprache. „Ich möchte, dass der Schüler, der diese Geschichte geschrieben hat, sich zu erkennen gibt.“ 

Dass der Schulleiter den Autor als Jungen bezeichnete, ärgerte Seu. „Die Geschichte ist nicht von einem Jungen“, platzte sie heraus. Ihre Lehrerin, die schläfrig an der Wand lehnte, war erschrocken über ihre Bemerkung und fragte Seu, was sie damit meine. 

„Wenn es kein Junge war, wessen Geschichte ist es dann?“, wollte sie wissen. 

Jetzt war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. 

„Meine“, flüsterte Seu und hoffte, dass niemand sie gehört hatte. Ihre Lehrerin und die Schulkinder um sie herum lachten ungläubig. 

„Was ist hier los?“, rief der Schulleiter vom vorderen Teil des Saals. „Was sagt sie? Was sagt sie?“ Inzwischen war sein Gesicht schweißüberströmt und knallrot vom vielen Schnaufen.

„Nichts“, antwortete die Lehrerin. „Sie weiß nichts.“

Aber Tevita beobachtete neugierig, dass das Mädchen, das da sprach, blind zu sein schien.  „Wer ist dieses Mädchen?“, fragte er. 

„Sie heißt Seu“, sagte der Schulleiter, der sich plötzlich sehr müde fühlte. „Sie kann die Geschichte nicht geschrieben haben. Sie ist blind.“ 

„Wir müssen mit ihr reden“, sagte Tevita. „Nur um sicher zu gehen.“ Er hatte die lange Reise nicht umsonst gemacht, und das war vielleicht die beste Spur, die sie hatten, um das Geheimnis zu lüften. 

Seu wurde ins Büro des Schulleiters gebracht und gebeten, die Geschichte zu erzählen, von der sie sagte, es sei ihre. Schnell wurde klar, dass sie die Wahrheit sagte. Der Direktor konnte es nicht glauben. Seus Lehrerin auch nicht. „Sie ist erst vor zwei Jahren eingeschult worden“, sagten beide. 

„Wir sind überzeugt“, verkündete Tevita, „dass es die Geschichte dieses Mädchens ist, und wir erklären ihren Eintritt für gültig. Eine Frage bleibt allerdings noch offen: Wer hat deine Geschichte aufgeschrieben?“, fragte er Seu vorsichtig. 

Als Seu von Pati erzählte, der im Wald lebte, musste sich der Direktor hinsetzen und sich Luft zufächeln. 

Alle waren erstaunt, als nun in einer zweiten Versammlung die Gewinnerin bekannt gegeben wurde. Der Direktor war erschöpft. Die Kinder, Lehrerinnen und Lehrer, die gemein zu Seu gewesen waren, konnten nicht aufhören, sie anzuschauen, und als sie auf die Bühne ging, um den öffentlichen Vertretern die Hand zu schütteln, klatschten und jubelten alle. 

Nach einigen offiziellen Reden wurde Seu gebeten, ein paar Worte zu sagen. 

„Ohne die Hilfe meines Cousins und Freundes Pati und all der Lebewesen, die ich im Wald getroffen habe, hätte ich diese Geschichte nicht schreiben können“, sagte sie. 

Wie auf ein Stichwort hin rief ihr Großvater aus dem hinteren Teil des Saals: „Darf ich vorstellen: Pati.“ Pati hatte nicht damit gerechnet, vorgestellt zu werden, und stürmte fast aus dem Saal, wobei sein buschiges, orangefarbenes Haar so rot aufflammte, wie sein Gesicht. Talus fester Handgriff hielt ihn zurück. Nach seinem Gespräch mit Seu war der alte Mann zu Pati gegangen, um ihm mitzuteilen, dass Seu den Wettbewerb gewonnen hatte. Pati, den die Dorfleute in letzter Zeit kaum noch zu Gesicht bekommen hatten, sah mehr denn je aus wie der Geist, für den sie ihn hielten.

„Pati?“, rief der Schulleiter unsicher. 

„Pati!“, flüsterten sich die Lehrerinnen und Lehrer zu.  

„Pati!“, jubelten die Kinder und klatschten. 

Einige aus der Lehrerschaft hatten noch an der Schule unterrichtet, als Pati ein Schüler war. Sie erinnerten sich an einen unruhigen Jungen, der keine Freunde hatte. Ein Junge, der wegen seiner Hautkrankheit gehänselt wurde. Ein Junge, der die Schule nach ein paar Jahren verließ. Ein Junge, dessen Handschrift unmöglich zu lesen war! 

Die ganze Schule flüsterte verwundert. Wie konnte ein blindes Mädchen, das gerade erst eingeschult worden war, mithilfe eines Albino-Jungen, der nur ein paar Jahre zur Schule gegangen war, einen nationalen Kurzgeschichtenwettbewerb gewinnen? 

„Ein dreifaches Hurra auf Seu“, rief der Schulleiter. 

“Hipp hipp! Hurra! Hipp hipp! Hurra! Hipp hipp! Hurra!“

„Und eins für Pati“, rief der Schulleiter. 

„Hipp hipp, hurra!“

„Und eins für mich“, fügte der Direktor hinzu, der wieder zum Leben erwacht war. Alle Kinder und Erwachsenen lachten.

Nach der Versammlung gingen Pati und Seu mit einigen neuen Freundinnen und Freunden in den Wald. Die Kinder wurden an diesem Tag früher aus der Schule entlassen. 

Später sagte Seu: „Es tut mir leid, Pati, ich habe wirklich nicht geglaubt, dass ich gewinnen würde.“

„Ich wusste, dass du gewinnen würdest, und ich freue mich für dich. Jetzt lass uns diesen Krachmachern beibringen, wie man leise durch den Wald geht, damit sie hören können, wie die Bäume und die Tiere zu ihnen sprechen.“

EIN KOSTBARES KIND

„Das ist unglaublich“, sagte die Direktorin. „Wir hatten keine Ahnung, dass sie dazu in der Lage ist.“

Tevita teilte der Schulleitung mit, dass Seus Geschichte an das UNESCO-Hauptquartier in Paris geschickt werde, wo sie mit Beiträgen aus der ganzen Welt konkurrieren würde. Er sagte: „Der internationale Wettbewerb zieht die talentiertesten jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Welt an, und ich habe das starke Gefühl, dass Seu zu den Besten gehören wird.“ 

Da die Geschichte in Samoa den ersten Platz belegte, wurde die Preisverleihung in Seus Dorf abgehalten. An der Veranstaltung nahm auch der Minister für Bildung, Sport und Kultur teil, der Seu gratulierte und „die Schule für ihre integrative Bildungspolitik“ lobte. Sowohl Seu als auch Pati verloren kein Wort über die Diskriminierung, der sie jahrelang ausgesetzt gewesen waren. Die Lehrerinnen und Lehrer warfen sich Blicke zu. Der Schuldirektor bewunderte seine neuen Schuhe. Der Minister verkündete außerdem, dass die Regierung der Region Mittel zur Verfügung stellen würde, um alle Schulen im Bezirk „behindertenfreundlich“ zu machen. Diese Entwicklung sollte schließlich zum Vorbild für andere Bezirke werden. 

Die von Seu erdachte und von Pati aufgeschriebene Geschichte war auch ein großer Erfolg in den Medien, die Nachrichten berichteten mehrere Tage lang. Eines Morgens kam sie sogar in den Nachrichten von Radio New Zealand.

Die Matai (die traditionellen Anführer) des Dorfes hatten noch nie ein derartiges Interesse für ihre Gemeinde erlebt. Sie beschlossen, Maßnahmen zum Schutz des Waldes zu ergreifen, in dem Pati lebte. Sie dachten darüber nach, wie sich der Klimawandel auf die Mangroven auswirkte. Sie begannen, sich zu fragen, wie Sandabbau, Umweltverschmutzung und Überfischung die Natur an der Küste zusätzlich belasteten. Sie verpflichteten sich sogar dazu, in den nächsten zehn Jahren jedes Jahr 1.000 einheimische Bäume zu pflanzen.

„Du bist ein sehr besonderes Kind“, sagte ihr Großvater liebevoll zu Seu. „Dein Mut und die Reinheit deines Herzens haben dem Dorf dein wahres Wesen offenbart. Die anderen waren es, die blind waren.“ 

Pati und Seu gingen weiterhin jeden Samstag in den Wald. Sie waren glücklich, weil alle im Dorf sie endlich so sahen, wie sie waren – sozusagen zum ersten Mal. Pati wurde dazu eingeladen, die weiterführende Schule zu besuchen, und obwohl er zunächst zurückhaltend reagierte, sagte ihm die Aussicht zu, neue Freunde zu finden. Auch Seus Schnalz-Navigation erregte viel Aufmerksamkeit. Die nationale Blindenorganisation untersuchte die als Echoortung bekannte Technik. Man plante, einen Echoortungstrainer nach Samoa zu bringen, um Blinde zu unterrichten. 

Zwei Monate später kam die Nachricht aus Paris, dass die Finalistinnen und Finalisten für den internationalen Wettbewerb ausgewählt worden waren. Wieder einmal staunten die Menschen im Dorf, dass Seus Geschichte einen Platz erhielt – den zweiten weltweit! Das berechtigte sie zur Teilnahme an der Preisverleihung in Brasilien, wo der Erstplatzierte lebte. Ihr Großvater und Pati sollten sie auf diesem großen Abenteuer begleiten. Aber das ist eine andere Geschichte. 

Noch vor Ende des Jahres wurden die Eingänge zu allen Klassenzimmern mit Rampen versehen und die Toiletten für Rollstuhlfahrer zugänglich gemacht. Zum Schutz blinder Schülerinnen und Schüler wurde ein Geländer angebracht. Der Schulleiter führte sogar eine tägliche Patrouille auf dem Schulgelände ein, um mögliche Hindernisse von den Wegen zu räumen. Zwei in Sonderpädagogik ausgebildete Lehrer wurden hinzugezogen, um den Dorflehrerinnen und -lehrern zu eröffnen, wie sie das Beste aus allen Schulkindern herausholen konnten.

Auch ein Waldschutzgebiet wurde abgesteckt. Kurze Zeit später kam ein blinder Echoortungstrainer nach Samoa, um ein Trainingsprogramm für Blinde ins Leben zu rufen. Zusammen mit seinen neuen Freunden Seu und Pati nahm er sich auch etwas Zeit, um den Wald zu erkunden, in dem die Pe'ape'a, Ma'oma'o und Manumea lebten. Er schwamm mit ihnen im warmen Meer bei den Felsen, wo ein Gogo mit seltsamen Augen sie beobachtete und ein Ātafa hoch über ihnen schwebte. Er begegnete einer Fledermausfamilie und einem großen Albino-Aal, lehnte es aber höflich ab, den örtlichen Armeen von Loata und Atualoa vorgestellt zu werden.

Das blinde Mädchen, das den Mut aufgebracht hatte, für sein Recht auf Teilnahme an einem Kurzgeschichtenwettbewerb einzutreten, hatte bewiesen, dass an ihr viel mehr dran war, als seltsame Augen. Wie Pati, den mehr ausmachte, als nur hellhäutig zu sein. Und wie Seus edler Vorfahre, der mehr war als nur ein Vogelfänger.


Glossar samoanischer Begriffe

Ātafa                      Großer Fregattvogel (Fregata minor), Seevogelart mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,3 Metern –
                                von allen Vögeln hat er die größte Flügelspannweite im Verhältnis zum Körpergewicht. Er kann nicht
                                schwimmen oder laufen und nicht von einer ebenen Fläche abheben. Dafür kann er über eine Woche
                                lang in der Luft bleiben.

Atualoa                  Tausendfüßler (Scolopendra subspinipes), dessen Stich äußerst schmerzhaft sein kann.

Gogo                      Seeschwalbe, eine Art Seevogel, tritt in verschiedenen Farben und Größen auf (jede mit ihrem eigenen
                                wissenschaftlichen Namen, wie z. B. die Zaumseeschwalbe, Sterna anaethetus).

Loata                      Eine Ameisenart, die schmerzhafte Stiche verursachen kann (Solenopsis papuana), und die gemeinhin
                                als „Armee- oder Soldatenameise“ bezeichnet wird.

Manumea              Zahnschnabeltaube (Didunculus strigirostris), ein auf Samoa beheimateter und vom Aussterben
                                bedrohter Vogel, möglicherweise mit dem ausgestorbenen Dodo verwandt, weshalb er auch
                                „kleiner Dodo“ genannt wird.

Ma'oma'o               Mao-Honigfresser (Gymnomyza samoensis), ein vom Aussterben bedrohter Vogel, der auf Samoa
                                heimisch ist.

Pe'ape'a                 Weißbürzelsalangane (Collocalia spodiopygius spodiopygius), ein Vogel, der die Echoortung nutzt.