21 Dec 2023  |  Galumalemana Steven Percival & Eliza Encheva-Schorch

Seu and the ruffled bird catcher / Seu und die Magie des Waldes

Educational children’s story available in German

 “Lafulafu a tama seugogo” is an old Sāmoan proverb that teaches the importance of not judging another person by his or her appearance alone. For Seu, a blind girl facing discrimination at school, the proverb is inspirational. When told she cannot enter a short story competition because she is blind, Seu’s grandfather tells her the extraordinary tale of a moss-ridden bird catcher, her ancestor, who turns out to be much more than he first appears. Seu too has more to offer than the people of her village expect. With new-found confidence and the help of her albino cousin, a lonely boy who lives in the forest, she devises a clever plan to enter the competition.  

Seu and the Ruffled Bird Catcher is a human rights education resource with a strong environmental theme. Writing the story has been supported in part by the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights and the United Nations Development Programme Multi-Country Office in Sāmoa.

Galumalemana Steven Percival

Seu und die Magie des Waldes (Teil 1 von 3)

von Galumalemana Steven Percival

Übersetzung: Eliza Encheva-Schorch
Lektorat: Susanne Darabas
Illustration: Kate Delaney


Der Albino-Junge schlich leise um das Haus. Er hatte von dem Kind mit den seltsamen Augen gehört und wollte es sich gerne selbst ansehen. Obwohl er erst sieben Jahre alt war, hatte Pati die drei Kilometer von seinem Zuhause bei Mondschein durch den Wald allein zurückgelegt. Er empfand, dass viele Menschen im Dorf Angst vor ihm hatten, und er hatte sich daran gewöhnt, die Welt im Dunkeln zu erkunden, wenn die anderen Kinder nicht da waren, um ihn zu hänseln. Auch das kleine Mädchen, seine Cousine ersten Grades, machte wohl einigen Dorfbewohnern Angst – das hatte er zumindest gehört. Pati verspürte keine Angst. Als er ins Haus schaute, sah er sie unter einem Moskitonetz liegen, sie strampelte mit ihren winzigen Füßchen in der Luft. Sie sah so klein und hilflos aus.

Anfang der Woche war die Bezirkskrankenschwester zu Besuch gewesen, und die Nachricht, dass das neugeborene Kind blind war, machte im Dorf schnell die Runde. „Armes Mädchen“, sagte Patis Mutter, Lefine, als die Geschichte sie erreichte. „Sie wird es in diesem Dorf nicht leicht haben“. Lefine dachte an ihren Albino-Sohn, der keine Freunde hatte.

Pati betrachtete das Mädchen. Wie konnte er ihr helfen? Schweigend beobachtete er die Kleine, bis sie einschlief, dann ging er nach Hause. Traurigkeit beschwerte ihn wie Morgentau. Als er den Wald betrat, sang ein Ma'oma'o eine wunderschöne Melodie, wie eine Verheißung besserer Zeiten.

DER WALD

Der alte Mann blickte seine Enkelin mit einer Mischung aus Trauer und Freude an, sie flackerte über sein wetter-gegerbtes Gesicht. Immer wenn Seu unglücklich war, war auch Talu unglücklich. Wenn sie glücklich war, was fast immer der Fall war, war auch er glücklich. Besonders schwer war es für ihn, wenn andere Kinder in der Schule gemein zu Seu waren. Gäbe es den Alten nicht, wäre Seu wahrscheinlich immer noch zu Hause und müsste ihrer Mutter bei den nie abreißenden Hausarbeiten zur Hand gehen. Seu war wahnsinnig neugierig und liebte es, bei ihrem Cousin im Wald zu sein, wo es so viel zu hören, riechen und anzufassen gab, dass die Stunden so rasend schnell vergingen wie Minuten. Bis Seu auftauchte, hatte Pati keine Freunde gehabt. Sie war sechs Jahre alt, als die beiden einander zum ersten Mal offiziell vorgestellt wurden. Er war dreizehn.

„Wohin gehen wir, Opa?“, fragte sie, als sie an diesem besagten Morgen aufbrachen.
„Ich bringe dich zur Schwester deiner Mutter, Lefine. Sie ist die beste Taulāsea in der Region.“ Lefine lebte mit ihrem Sohn Pati im Wald, in der Nähe des Dorfflusses.
Der Weg zu Lefines Haus faszinierte die kleine Seu. Die Umgebungsgeräusche veränderten sich, als sie das Dorf verließen. Der klagende Schrei des Ma'oma'o wurde lauter, je tiefer sie in den Wald eindrangen. Von allen Vogelstimmen, die sie dank ihres Großvaters erkennen konnte, liebte sie den Gesang des Ma'oma'o am meisten. Er beherrschte so viele verschiedene Melodien. Manche klangen fröhlich, andere traurig. Einige klangen sogar wie Fragen. Als sie an diesem Morgen den Wald betraten, kam es Seu so vor, als würde der Vogel immer wieder rufen: „Wer bist du? Wen kommst du besuchen?"

Seu drückte die Hand ihres Großvaters fester, nicht aus Angst, sondern weil die vielen verschiedenen Töne und Gerüche sie begeisterten. Ihre nackten Füße kribbelten wohlig und sie bewegte sich so leicht vorwärts, als würde die Erde sie beflügeln. Als sie um eine Ecke bogen, hörte sie ein schnell klickendes Geräusch, das sie noch nie vorher gehört hatte, aber sie war so aufgeregt, dass sie vergaß, ihren Großvater danach zu fragen.

Der Weg dauerte über eine Stunde, aber Seu kam es vor, als seien sie erst fünf Minuten unterwegs. Als sie ankamen, unterhielten sich Lefine und der alte Mann leise. Talu stellte Seu mit großer Förmlichkeit vor, als sei seine Enkelin eine kleine Prinzessin. Bald darauf betrat ein Junge das Haus, den Lefine als ihren Sohn Pati einführte. Er servierte ihnen heißen, süßen Kakao mit gebutterten Crackern. Seu fiel auf, dass er kein Wort sagte, als würde er den Atem anhalten. Sie spürte, dass er sie beobachtete.

Der alte Mann schlug Pati vor, mit Seu einen Spaziergang zum Fluss zu machen. Talu wusste, dass Seu bei Pati sicher war, er kannte den Wald wie andere Kinder ihren Hinterhof. Und Pati war einsam. Es machte den alten Mann geradezu fröhlich, sich vorzustellen, wie die neugierige kleine Seu, die immerzu redete und Fragen stellte, Patis Herz erfreuen würde. Der Spaziergang der beiden zum Fluss und zurück würde dem Alten genug Zeit geben, um sich mit Lefine zu besprechen. Seu und Pati sollten sich nun regelmäßig sehen.

Pati trat den Spaziergang schweigend an und wusste nicht recht, was er sagen sollte. Aber Seu konnte nicht in einer schwarzen und stillen Welt leben. Sie wollte reden und so viel wie möglich über den Wald herausfinden. Die Heimat so vieler Ma'oma'o, Manumea und anderer magischer Geschöpfe musste einfach der wundervollste Ort überhaupt sein! Es war ihr nicht klar, wie sehr Pati ihre Gesellschaft genoss. Er hatte lange darauf gewartet, mit seiner kleinen Cousine zusammen zu sein, damit er ihr etwas über die Natur beibringen und ihr seine Freunde, die Tiere, Pflanzen und Bäume vorstellen konnte. Der Wald war Patis Zufluchtsort, eine Oase, in der die Hautfarbe keine Rolle spielte und wo das Blätterdach Schutz vor den grellen Sonnenstrahlen bot. Seine Augen waren sehr lichtempfindlich, ein weiterer Grund, warum er die Dunkelheit bevorzugte. Seine liebste Tageszeit war die Dämmerung, kurz nach Sonnenuntergang, wenn das Licht alles weichzeichnete und in Bewegung versetzte.

„Was ist das für ein Klickgeräusch?“, fragte Seu. Er war wieder da, der ungewöhnliche Ton, den sie mit ihrem Großvater gehört hatte, nur lauter. Jetzt wollte sie wissen, welches Tier ihn verursachte. „Das ist der Pe'ape'a“, sagte Pati. Seu hatte diesen Namen noch nie gehört und war überrascht, dass ein Vogel das Geräusch verursachte. Sie hatte noch nie so ein seltsames Geräusch von einem Vogel gehört.
„Warum klickt er so?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Pati. „Er wird lauter, je näher er seiner Wohnhöhle kommt“.
„Seltsamer Vogel“, dachte Seu. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, ein Vogel zu sein und ein kleines Loch im Boden suchen zu müssen, und plötzlich verstand sie, warum der Vogel das Klickgeräusch machte. Auch sie schnalzte, um sich zurechtzufinden – nur nicht so schnell wie der kleine Vogel.
„Ist die Höhle sehr groß?“, fragte sie.
„Dort, wo er lebt, nicht. Nicht einmal du würdest durch den Eingang passen, glaube ich. Sie geht in eine größere Höhle über, aber der Vogel bevorzugt das kleine Loch.“
„Dann klickt er, um den Weg nach Hause zu finden“, verkündete sie. Seu erklärte, wie sie selbst durch das Schnalzen mit der Zunge „sehen“ konnte, wie ihr die Echos um sie herum verrieten, welche Dinge sich dort befanden, und ob sie zum Beispiel hart oder weich waren. Pati, der sein ganzes Leben im Wald verbracht hatte, war von ihrer schnellen Auffassungsgabe beeindruckt – die Erklärung leuchtete ihm sofort ein. Er war in der größeren Höhle des Pe‘ape‘a gewesen und hatte ihn in der pechschwarzen Dunkelheit wie verrückt klicken gehört. Er dachte daran, dass Fledermäuse auch Geräusche von sich gaben. Diese waren zwar anders, aber beide Signale dienten ein- und demselben Zweck: der Navigation. Seu konnte mit einem Schnalzen herausfinden, wo sie war: ob sie unter einem Baum stand oder in einem Gebäude, und wann sie sich im Freien befand. Sie erkannte, ob etwas vor ihr lag, und konnte sogar angeben, worum es sich handelte, womit sie ihren Opa immer wieder verblüffte.

Während Seu sich am Ufer des Flusses ausruhte, sammelte Pati einige Heilpflanzen, die seine Mutter brauchte. Er behielt sie immer im Auge und erzählte ihr dabei von den verschiedenen Pflanzen und ihrer Verwendung. Auf dem Nachhauseweg hörte er, wie Seu mit der Zunge schnalzte und sah überrascht zu, wie sie sich unter einen tiefen Ast duckte, den sie durch das Echo geortet hatte.
„Hat dir der Spaziergang gefallen?“
„Ja! Dieser Ort ist wunderbar, Opa. Darf ich wiederkommen?“, fragte sie und ihr Auge funkelte.
„Ja, das darfst du, aber nur, wenn Lefine einverstanden ist, und wenn Pati hier ist, um dir zu helfen“, antwortete der alte Mann und freute sich, dass ihr Interesse am Wald so groß war, wie er gehofft hatte.

Nach diesem ersten Besuch kam Seu jeden Samstagmorgen. Anfangs begleitete ihr Großvater sie noch, aber nach einer Weile ging sie mit ihrem älteren Bruder oder ihrer Schwester. Es dauerte nicht lange, bis sie die gesamte Strecke allein gehen konnte – trotzdem wurde sie immer begleitet. Diese Samstage waren für Seu wie ein Traum, der in Erfüllung ging.

SELTSAME AUGEN

„Kennst du die Bedeutung deines Namens?“, fragte Talu seine Enkelin sanft. Etwas in der Schule bereitete ihr Kummer, aber er hatte noch nicht herausgefunden, was. Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, als ob ihre Blindheit sie auch stumm gemacht hätte. Ihr dichtes Haar glänzte in der Sonne. Sie saßen auf einer Klippe mit Blick auf das Meer. Der alte Mann suchte die zerklüfteten Felsen nach dem Gogo ab. „Er ist sicher beim Fischen“ sagte er zu sich. Als er die Augen gegen das grelle Sonnenlicht abschirmte, erblickte er einen anderen Vogel, den Ātafa, der hoch am Himmel schwebte. Der Vogel sah genauso einsam aus wie das Kind.

„Der Gogo ist ein erstaunlicher Fischfänger“, sagte er und richtete seinen Blick aufs Meer, um den Fischervogel zu suchen. Seu hörte ihm ruhig zu. Sie hatte ihn schon oft von diesem Vogel sprechen gehört, aber nie verstanden, warum er für ihn so wichtig war oder warum sie diejenige sein sollte, die ihn fing. Die stummen Tränen trockneten schnell auf ihren Wangen. Für den Moment vergaß sie die Schwierigkeiten, mit denen sie in der Schule zu kämpfen hatte.
„Erklär mir die Bedeutung meines Namens, Opa“, bat sie.
„Du weißt, dass sich dein Name Seugagogo auf das Fangen des Gogo bezieht. Ich werde dir erzählen, wie er entstanden ist“, sagte er. „Es ist eine wahre Geschichte über unsere Vorfahren. Aber komm, wir sollten in den Schatten gehen, damit ich dir die Geschichte erzählen kann.“

Im Gehen erinnerte sich der alte Mann an Seus Geburt. Ihre seltsamen Augen hatten alle im Dorf geängstigt. Alle außer ihn. Die Pupille in dem einen Auge war so weiß wie eine sonnengebleichte Koralle, die manchmal wie eine Perlmuttmuschel glänzte. Die andere Pupille funkelte in Farben, die sich mit ihrer Stimmung zu ändern schienen.
„Sie ist verflucht“, hatten die Leute im Dorf schnell erklärt.

Es machte Talu traurig, dass viele Dorfbewohnerinnen und -bewohner glaubten, Blindheit könne auf ruhelose böse Geister oder auf Verbrechen der Vorfahren oder sogar auf einen Fluch zurückgeführt werden. Aber der alte Mann glaubte nicht daran, dass dies auf seine Enkelin oder irgendeine andere blinde Person zutraf. Er liebte sie vom Tag ihrer Geburt an, als sie zum ersten Mal zu ihm gebracht wurde. Wie ihre winzigen Hände seinen Finger umklammerten und ihr Gesicht mit den blinden Augen nach ihm suchte, wann immer sie seine Stimme hörte!

Er konnte sich noch immer an den Vogel erinnern, der am Morgen ihrer Geburt auf der Klippe gelandet war. Noch nie war er einem Gogo so nahegekommen und war erstaunt, als er seine seltsamen Augen bemerkte: eins weiß und das andere funkelnd wie eine kleine, farbige Murmel. Sie starrten einander lange an, bevor der Gogo einen schrillen Abschiedsschrei ausstieß. Er breitete seine Flügel aus und hüpfte ziemlich unbeholfen vom Rand der Klippe, bevor er zum Ozean und den schroffen Felsen hinabglitt, wo sein Zuhause war. Die seltsamen Augen des Gogo lieferten die Inspiration für den Namen des Kindes: „Seugagogo“, die Seeschwalben-Fängerin, oder „Seu“, wie sie von allen genannt wurde.

„Dieses Kind ist ein kostbares Geschenk“, hatte er später am Abend seiner Familie gesagt. Als Großvater des Kindes wurde sein Vorschlag, sie „Seugagogo“ zu nennen, ohne Widerrede akzeptiert. Von seiner Begegnung mit dem Vogel mit den seltsamen Augen erzählte er nichts.

Wie andere kostbare Geschenke wurde das Kind wohl behütet. „Zu gut“, begann er zu denken, als sie aufwuchs. Obwohl Seu von Natur aus aufgeweckt und neugierig war, durfte sie die Dorfschule erst mit neun Jahren besuchen. Und das erst, nachdem er darauf bestanden hatte. Bis dahin hatte ihr einziger „Unterricht“ mit ihm auf der Plantage stattgefunden oder mit ihrem älteren Cousin Pati im Wald.

Durch Seu kam Talu zu der Erkenntnis, dass ein blinder Mensch mit anderen Sinnen begabt ist und viel über die Welt erfahren kann. Ihm schien, als wären ihre anderen Sinne so stark entwickelt, dass ihr dadurch ein siebter Sinn entstand, eine Art Sehvermögen, das den sehenden Menschen fehlte. Sie hatte ein scharfes Gehör und ein starkes Gedächtnis. Ihr Tastsinn beschrieb die Welt um sie herum vollständiger als Worte. Aber die eigentümlichste ihrer Kräfte war die Fähigkeit, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden, indem sie mit der Zunge schnalzte. „Mein Enkelkind ist ein Pe'ape'a“, dachte er oft amüsiert und erstaunt zugleich.

Durch ihre anderen Sinne lernte Seu schnell. Als sie mit neun Jahren die dörfliche Grundschule besuchen durfte, waren ihre Lehrerinnen und Lehrer sowie ihre Mitschülerinnen und -schüler überrascht, wie viel sie schon wusste, vor allem in Naturkunde. Sie fühlten sich unbehaglich, wenn sie in Seus Nähe waren. Als die Schule eingeladen wurde, an einem nationalen Schreibwettbewerb zum Thema Umwelt teilzunehmen, dachte niemand, dass Seu mitmachen sollte, obwohl der Wettbewerb für ihre Altersstufe gedacht war. Seus Lehrerin kam gar nicht in den Sinn, es könne das Kind verletzen, als sie sagte: „Du kannst nicht am Wettbewerb teilnehmen, weil du blind bist. Und außerdem kannst du nicht einmal schreiben“. Damit war die Sache erledigt.

EINE ALTE SAMOANISCHE GESCHICHTE

„Es lebten einmal zwei schöne Schwestern“, begann der alte Mann. „Gauifaleai und Tōtōgatā, Töchter von Tui Samoa." Seu schlang die Arme um ihre Knie, ihre Stimmung hob unsicher ab wie ein Gogo, der zum Flug ansetzt. Talu und Seu wussten nicht, dass der Gogo mit den seltsamen Augen sie von einer kleinen Insel vor der Küste aus beobachtete. Er flog genau in dem Moment los, als sich Seus Stimmung hob, als zöge er an den Freudenfäden ihres Herzens. Der alte Mann sah den Vogel auf sie zufliegen und dann nach rechts abbiegen. Er glaubte, ein Auge funkeln zu sehen. Was für ein seltsamer Vogel!
„Was war das?“, fragte Seu.
„Ein Gogo ist gerade vorbeigeflogen“, antwortete Talu, der erstaunt feststellte, dass seine Enkelin den Kopf drehte, wie um zu sehen, wohin der Vogel geflogen war.
„Es hieß, die Schwestern seien die schönsten Mädchen in ganz Samoa“, fuhr er fort und blickte zu Seu, deren Kopf seltsamerweise dem Flug des Vogels durch die Luft zu folgen schien. Es kam Talu in den Sinn, dass sie vielleicht den Flügelschlag hören konnte, obwohl ihm das ganz sicher nicht gelang.

Viele junge Männer kamen und machten den Schwestern den Hof, aber keiner konnte ihr Herz erobern. Unter denen, die es versuchten, waren auch zwei Brüder, Fualeto'elau und La'auli, die Söhne von Malietoa Uitualagi. Der jüngere Bruder, Fualeto'elau, besuchte die beiden Schwestern und ihre Familie als erster. Seine Bemühungen beeindruckten keine der Schwestern. Kaum dass er sich von seinem Bruder verabschiedet hatte, war er auch schon wieder zu Hause und bestätigte, dass sie wirklich schön seien und dass er nicht eher ruhen würde, bis es ihm gelang, das Herz einer der Schwestern zu gewinnen.

Der ältere Bruder, La‘auli, beschloss, es ebenfalls zu versuchen. „Ich werde zuerst Tauben fangen, damit ich den Schwestern ein besonderes Geschenk überreichen kann“, sagte La‘auli zu seinem jüngeren Bruder. Die Federn bestimmter Tauben sind bunt und man kann einen schönen Rock daraus machen. Der Wald oberhalb des Dorfes, in dem die Schwestern lebten, war ein Dschungel mit dicht stehenden Bäumen, in denen die Tauben gerne nisteten. La'auli jagte die Tauben zwei Tage lang. Er ging sehr vorsichtig mit den Vögeln um, die er fing, und rupfte ihnen nur sanft ein paar ihrer besten Federn aus, bevor er sie wieder freiließ. Bei Anbruch des zweiten Tages legte er sich schließlich müde und zerzaust in Dorfnähe zur Ruhe.

„Seu! Seu ea!“ Der Ruf von zu Hause fiel wie ein plötzlicher Regen auf Seus Schultern. Ihre Mutter Moana schrie Seus Namen immer so laut, dass das ganze Dorf es hören konnte. „Ich bin blind, nicht taub“, flüsterte sie ihrem Großvater mit einem halben Lächeln zu, wobei ihr buntes Auge funkelte.
„Komm! Komm schnell, sonst gibt es Ärger!“
„Ich gehe jetzt besser“, seufzte Seu. „Kannst du die Geschichte später zu Ende erzählen, Opa?“
„Ja, ja. Geh nur, wir machen morgen weiter“. Er sah ihr nach, lauschte ihrem Schnalzen und bewunderte, dass sie genau wusste, wann sie ihre Hand heben musste, um die unteren Blätter des Mangobaums beiseitezuschieben. Einmal hatte er sie nach dem Schnalzen gefragt, und sie hatte ihm erklärt, dass sie an dem zurückprallenden Geräusch erkennen konnte, welche Dinge sich um sie herum befanden, ob sie hart und hoch waren wie ein Strommast oder locker und durchlässig klangen wie ein Busch. Das Schnalzen faszinierte die Leute im Dorf, Kinder ahmten Seu manchmal nach, indem sie mit ausgestreckten Händen mit der Zunge schnalzten und so taten, als seien sie blind. Es war gut, dass Seu das nicht sehen konnte.

„Wo bist du gewesen?“, fragte ihre Mutter. „Ich habe dich gerufen, damit du deinem Bruder hilfst, das Haus zu fegen und die Hühner zu füttern.
„Das mache ich gleich, aber vorher möchte ich dir noch etwas sagen“, antwortete das Mädchen. „Unsere Schule wurde eingeladen, an einem Schreibwettbewerb zum Thema Umwelt teilzunehmen, und ich möchte gerne mitmachen, aber meine Lehrerin sagt, ich darf nicht.“
„Sie hat Recht“, sagte ihr Bruder. „Worüber kann ein blinder Mensch überhaupt schreiben?“
„Dass ich blind bin, hat damit nichts zu tun. Ich habe viele Ideen für eine Geschichte und möchte mit den anderen Schulkindern meiner Klasse am Wettbewerb teilnehmen. Pati kann mir dabei helfen.“
„Pati!“, rief ihre Mutter, „Er geht schon seit drei Jahren nicht mehr zur Schule. Wie kann er dir helfen? Wahrscheinlich kann er gar nicht schreiben“, lachte sie.
„Er kann schreiben. Das hat er mir gesagt. Ich werde ihm meine Geschichte erzählen und er wird sie aufschreiben.“

Immer wenn es Seu traurig machte, blind zu sein, dachte sie an Pati. Wenn andere gemein zu ihr waren, sie neckten und sie beschimpften, war Pati immer freundlich. Sie konnte seine rosa-weiße Haut und sein orangefarbenes Haar nicht sehen, konnte aber an seiner Stimme hören, dass er nur mit wenigen Menschen befreundet war. Sie wusste, dass die Kinder in der Schule ihn noch mehr fürchteten und ärgerten als sie. Er hatte ihr einiges über den Wald und seine Lebewesen beigebracht, wie man essbare Wildpflanzen und andere nahrhafte Dinge fand, was die meisten Dorfleute schon fast vergessen hatten. Auch viele verschiedene Vögel konnte sie durch ihn am Ruf erkennen.

Sie wollte eine Geschichte über die Magie des Waldes schreiben. Denn Pati hatte ihr erzählt, dass diese verschwand. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr eines Tages von einem Teil des Waldes berichtete, der sich bis zur Küste erstreckte, wo sich ein Mangroven-Sumpf befand. „Der Sumpf wandert landeinwärts“, sagte Pati. „Du meinst, die Bäume wandern?“ fragte Seu, entzückt von der Vorstellung marschierender Bäume. „Ja, Sümpfe können ‚gehen‘, wenn auch viel langsamer als du und ich. Das liegt daran, dass das Meer steigt. Meine Mutter hat mir erzählt, dass der Sumpf heute nur noch halb so groß ist wie früher, als sie in deinem Alter war, und dass das Gebiet, in dem sie einst Heilpflanzen sammelte, heute unter Wasser steht.“

Pati sagte auch, dass es vor nicht allzu langer Zeit noch viel mehr Vögel gab. Auch sie waren verschwunden oder zumindest weiter weggezogen. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum Seu die Geschichte schreiben wollte. Sie wollte, dass die Kinder im Dorf anders über Pati dachten. Wenn er ihr beim Schreiben der Geschichte half und sie die Geschichte mochten, würden sie ihn auch mehr mögen.
„Nein“, sagte ihre Mutter und beendete die Diskussion. „Jetzt geh und hilf deinem Bruder“. Damit war die Sache endgültig vom Tisch.

Wie die Geschichte von Seu und Pati weitergeht, könnt ihr in Teil 2 lesen...


 

Glossar samoanischer Begriffe

Ātafa           Großer Fregattvogel (Fregata minor), Seevogelart mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,3 Metern – von allen
                     Vögeln hat er die größte Flügelspannweite im Verhältnis zum Körpergewicht. Er kann nicht schwimmen oder
                     laufen und nicht von einer ebenen Fläche abheben. Dafür kann er über eine Woche lang in der Luft bleiben.

Gogo           Seeschwalbe, eine Art Seevogel, tritt in verschiedenen Farben und Größen auf (jede mit ihrem eigenen
                     wissenschaftlichen Namen, wie z. B. die Zaumseeschwalbe, Sterna anaethetus)

Manumea   Zahnschnabeltaube (Didunculus strigirostris), ein auf Samoa beheimateter und vom Aussterben bedrohter
                     Vogel, möglicherweise mit dem ausgestorbenen Dodo verwandt, weshalb er auch „kleiner Dodo“ genannt wird

Ma'oma'o    Mao-Honigfresser (Gymnomyza samoensis), ein vom Aussterben bedrohter Vogel, der auf Samoa heimisch ist

Pe'ape'a      Weißbürzelsalangane (Collocalia spodiopygius spodiopygius), ein Vogel, der die Echoortung nutzt

Taulāsea     Traditionelle samoanische Heilerin oder traditioneller Heiler (oft kräuterkundig)