09 Feb 2024  |  Galumalemana Steven Percival & Eliza Encheva-Schorch

Seu und die Magie des Waldes, Teil 2: Ein geheimer Plan

In part 1 of Galumalemana Steven Percival's story Seu and the Ruffled Bird Catcher, Seu, a curious and imaginative blind girl, becomes friends with her albino cousin Pati. The kids delve into exploring the magic of the forest next to Pati's house, getting to know endangered species, learning about echolocation, 'walking' mangroves, and more. Seu's grandfather tells her an old Sāmoan story about two brothers of noble lineage who set out to court two beautiful sisters, the daughters of Tui Sāmoa...

 

Seu und die Magie des Waldes (Teil 2 von 3)

von Galumalemana Steven Percival

Übersetzung: Eliza Encheva-Schorch
Lektorat: Susanne Darabas
Illustration: Kate Delaney

Am nächsten Morgen stand Seu frühzeitig auf. Samstag war ihr Lieblingstag. Der Tag, an dem sie mit Pati in den Wald ging. Ihr Großvater hatte die Familie längst davon überzeugt, dass sie bei Pati gut aufgehoben war. Pati kannte den Wald wie kein anderer, er könnte selbst blind sein und wüsste trotzdem immer, wo er sich befand. Seu war an diesem Morgen ziemlich aufgeregt. Ihr schwirrte eine Idee im Kopf herum und sie wollte unbedingt mit ihrem Freund darüber sprechen. Aber vorher musste sie den Rest der Geschichte über La'auli hören, der auf die Jagd nach Vogelfedern gegangen war.

Nach einem köstlichen Frühstück mit Esi (Papaya), 'Ulu (gebackener Brotfrucht) und Koko Samoa (heißem Kakao) bat Seu ihren Opa, ihr die Geschichte zu Ende zu erzählen. Talu wusste, dass sie so schnell wie möglich zu Pati wollte. „Wo waren wir stehengeblieben?“, fragte er.
„La'auli ruhte sich nach der Taubenjagd im Wald aus.“
„Das stimmt. Er hatte viele Taubenfedern gesammelt und sogar schon einen schönen Federrock daraus gemacht. Jetzt ruhte er sich aus, bevor er ins Dorf hinunterging, um den zwei Schwestern den Rock und die übriggebliebenen Federn zu bringen.

La'auli war nicht bewusst, dass er sich in der Nähe eines Weges zu einem beliebten Naturbad befand, den auch die Schwestern gerne aufsuchten. Zufällig waren die beiden gerade an diesem Morgen zum Baden unterwegs. Du kannst dir vorstellen, wie erschrocken alle drei reagierten, als sie aufeinandertrafen. Die Mädchen sahen ihn an und brachen in Gelächter aus. Doch sie bewunderten den Rock aus Federn und flüsterten anerkennend miteinander.

‚Du hast einen prächtigen Federrock‘, sagte Tōtōgatā. La'auli begriff, dass es sich bei den Mädchen um genau die Schwestern handeln musste, die er beeindrucken wollte, und er antwortete: ‚O lupe sa vao ese'ese ua fuifui fa'atasi‘, was bedeutet, dass die Tauben, die einst in verschiedenen Wäldern nisteten, jetzt als ein Schwarm zusammen sind.
‚Aber warum bist du mit Moos und Farnkraut bedeckt?‘
Er ordnete seine Gedanken und antwortete: ‚Lafulafu a tama seugogo‘ – so schaut eine Person aus, die Seeschwalben jagt‘ (obwohl er Tauben gefangen hatte).“

„Seugogo! Das ist mein Name!“ kreischte Seu.
„Ja, Kleine“, lächelte der alte Mann. „Du bist nach den Abenteuern eines deiner berühmtesten Vorfahren benannt.“
„Hast du jemals den Gogo in der Nähe unseres Hauses gesehen?“, fragte Seu. Ob das wohl der Vogel war, den sie so oft über sich hören konnte?
„Ja, aber nur einmal habe ich einen aus der Nähe gesehen. Normalerweise sieht man sie nur auf See beim Fischen, nur einmal landete einer unweit von hier. An dem Tag, an dem du geboren wurdest“, sagte er leise.
„Am Tag meiner Geburt …“, flüsterte Seu und schloss die Augen.
„Ja. Es war ein sehr ungewöhnlicher Vogel mit seltsamen und schönen Augen. Wegen dieses Vogels habe ich deinen Namen gewählt“, sagte er leise und erinnerte sich wie in einem Traum an seine stille Begegnung mit dem Vogel.

„Wie ging die Geschichte weiter?“ fragte Seu.
„Inzwischen waren die Mädchen sehr neugierig auf diesen jungen Mann geworden, der in Rätseln zu antworten schien. ‚Warum sind deine Haare so zerzaust?‘, fragte Tōtōgatā.
‚E valavala ae tūmanu‘, antwortete er und meinte damit, dass sein Haar zwar struppig sein möge, er aber viel mehr zu bieten habe als das. Auf diese umständliche Weise deutete La’auli den Mädchen gegenüber an, dass er ein Aloali’i war – der Sohn eines hohen Führers. Also ein Prinz!

Die Mädchen kicherten und betrachteten ihn mit wachsendem Interesse. Er schloss sich ihnen an, als sie zum Fluss gingen, und nachdem er gebadet, seinen stattlichen Körper eingeölt und seine Haare in Ordnung gebracht hatte, war La'auli völlig verwandelt. Sein Haar war nun ordentlich zu einem Knoten gebunden und seine Haltung entsprach ganz dem jungen und gutaussehenden Prinzen, der er war. Zur großen Freude der Mädchen überreichte er ihnen feierlich den Rock und die Federn, die er am Vortag gesammelt hatte.

Was als nächstes geschah, konnte er nicht ahnen. Als sie im Haus von Tui Samoa ankamen, erklärten sowohl Gauifaleai als auch Tōtōgatā ihre Liebe für den Vogelfänger edler Abstammung.
La'auli kehrte in sein Dorf zurück. Er hatte nicht nur das Herz einer, sondern gleich zweier Schwestern erobert. Im Dorf wurde La'aulis Sieg beklatscht und gefeiert. Ein Dorfbewohner spottete über dessen Bruder Fualeto'elau: ‚Sieh mal, dein Bruder, der auf Vogeljagd gegangen ist, hat die Herzen von zwei schönen Schwestern erobert, und du kein einziges. Was sagst du dazu?‘ Jemand anders wäre beleidigt gewesen, aber Fualeto'elau erwiderte nur: ‚Lau o le fiso, lau o le tolo, e ala e tasi le mauga i Olo‘: Das Fiso-Blatt und das Tolo-Blatt sind ein und dasselbe, wie auch der Weg zum Berg Olo ein und derselbe ist. Auf diese Weise sagte er, dass La'auli sein Bruder sei, und dass dessen Sieg geteilt werden müsse. Ehre für einen bedeutet Ehre für alle. 

Hör gut zu, kleine Seu, denn in diesen alten Sprüchen steckt große Weisheit. In Wirklichkeit war La'auli viel mehr als nur ein Vogelfänger. Er war tatsächlich von edler Abstammung. Man soll einen Menschen nicht nach seinem Aussehen beurteilen, denn der Schein kann täuschen und die wahre Natur einer Person verschleiern.“ Der alte Mann sah seine Enkelin an. Sie hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck, als würde sie innerlich lächeln. Ihr buntes Auge funkelte erwartungsvoll in der Morgensonne.
„Danke, Opa! Das war die schönste Geschichte, die ich je gehört habe.“ 

Seu erledigte schnell ihre morgendlichen Aufgaben und eilte, mit ihrem älteren Bruder im Schlepptau, so schnell ihre Füße sie trugen, zu Patis Haus im Wald. Lange vor ihrem Bruder kam sie dort an.
„Ich weiß, was wir tun müssen, Pati“, erklärte sie, atmete vor Anstrengung tief ein und aus und schnalzte sich ihren Weg ins Haus. Sie hielt einen Moment inne, drehte sich um und schnalzte zweimal. „Hallo Lefine“, sagte sie zu Patis Mutter und blickte sie an. Lefine, die sich so still wie möglich in einer Ecke des Hauses aufhielt, gab ein zustimmendes Geräusch von sich und schnalzte selbst erstaunt mit der Zunge. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“
„Ich kann dich mit meinen Ohren sehen“, lachte Seu. Dieses Spiel spielten die beiden jeden Samstag. Lefine versteckte sich irgendwo im Haus, und Seu suchte so lange ihre Umgebung ab, bis sie sie fand.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte Pati. „In der Nähe des Bachs. Ich habe es in der kleinen Höhle gefunden. Können wir jetzt gehen, Mama?“ Pati war früh aufgestanden und hatte alle seine Aufgaben schon erledigt, weil er wusste, dass Seu kommen würde.
„Ja, aber nehmt etwas zu essen mit. Geht nicht weiter als bis zu den Wasserfällen und kommt am frühen Nachmittag zurück. Du weißt, wie sehr sich Seus Familie um sie sorgt, wenn sie zu spät kommt. Und vergiss nicht, die Heilpflanzen zu sammeln, die wir brauchen.“

Nachdem sie einen kleinen Korb mit Lebensmitteln gepackt hatten, machten sich die beiden zügig auf den Weg, während Seus Bruder dablieb und Lefine half. Die Heilerin konnte ein gelegentliches Schnalzen hören, als die zwei kleinen Freunde durch die Plantage auf den Wald zuliefen. Als sie Seus Großvater zum ersten Mal nach dem Schnalzen gefragt hatte, war sie von der Antwort erstaunt gewesen: dass das Mädchen mit Hilfe des Schallechos tatsächlich „sehen“ konnte.

Unfähig, ihre Aufregung im Zaum zu halten, begann Seu, von ihrer Idee zu erzählen. „Ich werde unter einem falschen Namen am Kurzgeschichten-Wettbewerb teilnehmen. Niemand außer dir und mir wird es wissen“.
„Ich kann dir helfen, die Geschichte zu schreiben, aber wozu ist das gut?“, fragte er. „Wenn du nicht deinen richtigen Namen verwendest, wird niemand wissen, dass es deine ist.“ Seu war es egal, ob sie gewann oder nicht. Ihr Ziel war es, eine Geschichte zu verfassen, mit der sie am Wettbewerb teilnehmen konnte – genau wie die anderen Kinder in ihrer Klasse.

Seu erzählte Pati von dem Wettbewerb, verriet jedoch nicht, dass ihre Geschichte vom Wald handeln sollte, über den sie so ​​viel von Pati gelernt hatte. Ihre Angst war, dass er dann vielleicht nicht zustimmen würde, sie aufzuschreiben. „Pati, versprich mir, dass du mir hilfst, die Geschichte zu schreiben“, bat sie ihn.
„Ich habe dir schon gesagt, dass ich dir helfen werde“, sagte er.
Seu hielt inne, unsicher, ob sie fortfahren sollte. „Die Geschichte handelt von diesem Ort“, sagte sie leise.
„Was? “
„Es geht um den Wald, die Bäche, die Vögel, die Pflanzen und Bäume, sogar um die Tausendfüßler. Ich finde, die Menschen sollten wissen, wie wunderbar dieser Ort ist.“
„Wohin wirst du die Geschichte schicken?“, fragte Pati nach einer Weile. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass andere in den Wald kommen könnten, sobald sie von seiner Schönheit wussten.
„Die Lehrerin sagte, dass die Geschichten an das Bildungsministerium in Apia geschickt werden“, sagte Seu.
„Werden die Leute, die deine Geschichte lesen, wissen, dass du über diesen Wald schreibst?“
„Nein. Die Geschichte wird von einem Ort handeln, der überall in Samoa sein könnte.“ 

Sie gingen schweigend in Richtung Bach. Pati fragte sich, worauf er sich da eingelassen hatte.  Währenddessen dachte Seu bereits über ihre Geschichte nach. Sie sollte von einem Waldhüter handeln, der mit den Geschöpfen des Waldes und mit seinen Sträuchern und Bäumen sprach. Der Mann wanderte im Mondschein durch den Wald, um all seine verborgenen Geheimnisse zu erfahren. Ihre Gedanken überschlugen sich wie Wellen, schnell und klar wie der Bach, dem sie nun näherkamen. 

Als sie den Bach erreichten, führte Pati sie auf einen schmalen Pfad am Wasser. 

Seu hörte so viele Vögel gleichzeitig singen, sie konnte sie kaum auseinanderhalten. Ihr Lieblingsvogel, der Ma'oma'o, klang, als würde er immer wieder „Guten Morgen, meine kleinen Freunde, guten Morgen“ rufen. Nach einer kurzen Strecke überquerten sie den Bach und kamen zu einer kleinen Höhle. „Hier drin ist eine Fledermaus“, sagte Pati. „Sie wurde von Jägern angeschossen und ein Flügel ist schwer verletzt.“
„Was machst du jetzt mit ihr?“ fragte Seu.
„Ich versuche, ihre Wunde zu heilen. Ich habe Heilkräuter daraufgelegt. Heute ist sie schon viel stärker als vor drei Tagen, als ich sie fand.“

Immer wieder half Pati wilden Tieren, und manchmal hatte Seu das Glück, bei seiner Arbeit dabei zu sein. Normalerweise hatten wilde Tiere Angst vor Menschen, aber Pati rieb sich mit Schlamm ein, um seinen menschlichen Geruch zu verbergen. Wenn er mit Vögeln arbeitete, rieb er sich oft an verfaulten Früchten, an Mangos und Papayas. Einmal hatte er einer Manumea geholfen, einer Zahnschnabeltaube mit gebrochenen Flügeln. Seus Lehrerin hatte ihrer Klasse einmal erzählt, dass diese Taube auf Samoa heimisch sei. Sie sei vom Aussterben bedroht und werde nur noch selten gesehen. Seu setzte sich in Gedanken Erinnerungssteine für ihre Geschichte, während sie Pati in den Wald zurückgehen hörte. 

„Ich werde ein paar Noni-Heilfrüchte pflücken und sie mit den Mangos mischen, die wir von zu Hause mitgebracht haben. Das sollte der Fledermaus helfen. “
„Woher weißt du so viel über die Tiere und den Wald?“, fragte Seu und überlegte wieder, was sie in ihre Geschichte aufnehmen würde.
„Der Wald und all seine Geschöpfe haben Stimmen. Sie sprechen eine eigene Sprache für jene, die zuhören wollen“, sagte er und blickte zum letzten verbliebenen Ifilele-Baum hinauf. „Die Menschen bewegen sich meist zu schnell oder sind zu laut, um sie zu hören.“

Noch in derselben Nacht begann Seu, ihre Geschichte in Gedanken auszuformulieren. Die Handlung war einfach. Es ging um einen Wald, der von seinem Hüter beschützt wurde. Einem Mann, der seine Umwelt in- und auswendig kannte und stets darauf achtete, dass das natürliche Gleichgewicht aller Dinge erhalten blieb. Der Verlust einer Fledermaus würde die Verteilung der Lebewesen im Wald durcheinanderbringen, und das konnte sich schließlich auch auf die Menschen auswirken, die in der Nähe des Waldes lebten und deren Überleben von Wald abhing.

Am Samstag darauf begann Seu, Pati ihre Geschichte zu erzählen.
„Wer ist dieser Hüter?“, fragte er.  
„Er passt auf den Wald auf. Er lebt dort und kümmert sich um die Lebewesen des Waldes“, erklärte Seu. 

Je weiter die Geschichte voranschritt, desto unwohler fühlte sich Pati. Es war, als würde Seu über Träume sprechen, die er oft hatte. Er konnte sich sogar an manche Ereignisse in der Geschichte „erinnern“, andere wiederum schienen wie von seltsamen Mondlichtblitzen erhellt. Die Geschichte enthüllte in ihrer einfachen Sprache etwas von den Wundern und der Schönheit des Waldes und doch wussten beide, dass es unmöglich war, seine wahre Natur ganz einzufangen.

Pati kam es seltsam vor, dass jemand, der nicht sehen konnte, die Natur so gut zu beschreiben vermochte. In einem Kapitel, Pati gefiel es am besten, drangen Jäger in den Wald ein, um Pe'a und Lupe – Fledermäuse und Tauben – zu töten, sowie die gefährdeten Manumea. Naturschutz, ein Wort, das aus der Stadt stammte, interessierte sie nicht. Sie aßen gern Tauben, nur das zählte für sie. Schließlich war der Wald schon immer vom Dorf bewirtschaftet worden, und sie empfanden es als ihr gutes Recht, seine Früchte und Tiere zu ernten und zu genießen. Ein wachsamer Ma'oma'o überbrachte dem Hüter die Nachricht von den Besuchern, als er gerade tief im Wald Kräuter sammelte.

Der Vogel rief dem Hüter zu:          
'Sie kommen! Sie kommen!
Sie sind nicht willkommen!
Sie kommen! Sie kommen!
Oh, die Übelriechenden!
Gebt Acht! Gebt Acht!
Sie werden sich an Vögeln laben,
die verzehren Früchte und Samen!'

Sobald er den Schrei des Ma'oma'o hörte, ordnete der Hüter mit einem schrillen Pfiff an, dass ein Ātafa nach Süden flog, um festzustellen, wo die Jäger sich befanden und in welche Richtung sie gingen. Über den Ma'oma'o meldete der Atafa, dass die Jäger eine Stunde Fußmarsch entfernt waren und sich auf einem Pfad in der Nähe eines Bergbachs nach Norden bewegten. Bis zum Bach war es nicht weit. 

„Gut“, dachte der Hüter. „Wir werden ihnen eine Falle stellen.“ Er rannte durch den Wald in Richtung Bach. Andere Kreaturen spürten die Sorge des Hüters und brachen in die gleiche Richtung auf. Er hinterließ keine Spuren und eilte voran wie ein sanfter Windhauch, kaum dass seine Füße den Boden berührten. 

Am Bach  angekommen, griff sich der Hüter zwei große runde Steine und klopfte sie im Wasser immer wieder rhythmisch aneinander. Es dauerte nicht lange, bis ein großer Albino-Aal auftauchte. Der Hüter watete tiefer in den Bach und ging auf die Knie, damit die Kreatur um ihn herumschwimmen konnte. Er schloss die Augen und nutzte weiter die Steine, um zu dem Aal zu sprechen. „Der Plan ist einfach“, sagte er.  „Du schwimmst stromabwärts und ziehst die Aufmerksamkeit der Jäger auf dich. In der Zwischenzeit versammeln sich zwei Armeen aus Atualoa und Loata – Tausendfüßler und schwarze Soldatenameisen –, und warten auf sie.“

Für den Aal war das eine riskante Angelegenheit, denn die Jäger hatten Wurfspeere und konnten ihn damit töten, wenn er nicht aufpasste. Der Aal sollte an einer großen Biegung des Bachs warten, wo der Weg ganz nah am Wasser entlangführte. Der Ma'oma'o, zu dem sich nun zwei Pe'ape'a gesellten, sollte sowohl den Aal als auch den Hüter auf dem Laufenden halten, wo sich die Jäger befanden.

Schnell ging der Hüter des Waldes zum größten Loatahaufen in der Gegend. Mit einem schnelleren Takt, den er mit kleinen, glatten Flusssteinen anschlug, rief er die große Armee der Soldatenameisen auf, sich bereit zu machen, den Wald vor den Eindringlingen zu schützen. Auf dem Waldboden fand er zwei heruntergefallene Äste, die er aneinander rieb, um ein raschelndes Geräusch zu erzeugen. So wies er die nächstgelegenen Atualoa an, ein Bataillon ihrer stärksten Kämpfer zu entsenden, solche, die sich seitlich schlängeln können und ein starkes Gift besitzen.

Der Aal schwamm träge flussabwärts den Jägern entgegen. Wie der Hüter erwartet hatte, zog der fette weiße Aal sofort die Aufmerksamkeit der Jäger auf sich. Der Ma'oma'o stieß einen spitzen Warnschrei aus, woraufhin der Aal die Richtung änderte und mit erstaunlicher Geschwindigkeit stromaufwärts schwamm. Die Jäger jauchzten vor Vergnügen und verfolgten die Kreatur, ohne sie aus den Augen zu verlieren, bis sie in die versammelten Armeen der Loata und Atualoa stolperten.

Der Hüter beobachtete das Geschehen vom gegenüberliegenden Ufer aus und raschelte schnell den Befehl zum Angriff: „Auoisa! Auoisa!“ Als er die Menschen schreien und jaulen hörte, war ihm klar, dass sie sich gleich in den Bach stürzen würden, um die Insekten loszuwerden. Unbemerkt von den Jägern wirbelte er den Stab, den er bei sich trug, immer wieder im Kreis durch das Wasser. Wie erwartet, rannten die Jäger in den Bach und schlugen sich dabei auf Beine und Füße.

Kraftvoll schäumend stieg der Bergbach an und trug die Jäger schnell aus dem Wald hinaus und hinunter zur Küste. Der Ma'oma'o wollte ebenfalls zum Angriff beitragen und bombardierte die Jäger im Sturzflug mit stinkigen Abschiedsbotschaften. „Und kommt ja nicht zurück!“, krächzte er ziemlich untypisch, während er die Jäger Richtung Meer scheuchte.

Pati, der Seu gegenüber den Albino-Aal nicht erwähnt hatte, der in der Nähe der Pe'ape'a-Höhle lebte, war erneut überrascht von den Verbindungen zwischen seiner Welt und Seus Geschichte.

 

Wie die Geschichte von Seu und Pati zu Ende geht, erfahrt ihr im März 2024 auf diesem Blog.

Teil 1 könnt ihr hier nachlesen.


 

Glossar samoanischer Begriffe

Ātafa                      Großer Fregattvogel (Fregata minor), Seevogelart mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,3 Metern –
                                von allen Vögeln hat er die größte Flügelspannweite im Verhältnis zum Körpergewicht. Er kann nicht
                                schwimmen oder laufen und nicht von einer ebenen Fläche abheben. Dafür kann er über eine Woche
                                lang in der Luft bleiben.

Esi                          Papaya, Papayabaum (Carica papaya)

Gogo                      Seeschwalbe, eine Art Seevogel, tritt in verschiedenen Farben und Größen auf (jede mit ihrem eigenen
                                wissenschaftlichen Namen, wie z. B. die Zaumseeschwalbe, Sterna anaethetus)

Koko Samoa         Samoanischer Kakao (Theobroma cacao): Dieser wird geröstet und gestampft, um eine Paste
                                herzustellen, die zu dem gleichnamigen heißen Schokoladengetränk verarbeitet wird.

Manumea              Zahnschnabeltaube (Didunculus strigirostris), ein auf Samoa beheimateter und vom Aussterben
                                bedrohter Vogel, möglicherweise mit dem ausgestorbenen Dodo verwandt, weshalb er auch
                                „kleiner Dodo“ genannt wird

Ma'oma'o               Mao-Honigfresser (Gymnomyza samoensis), ein vom Aussterben bedrohter Vogel, der auf Samoa
                                heimisch ist

Nonu                      Noni (Miranda citrifolia): eine medizinische Frucht mit stechendem Geruch

Pe'ape'a                 Weißbürzelsalangane (Collocalia spodiopygius spodiopygius), ein Vogel, der die Echoortung nutzt

'Ulu                         Brotfrucht (Artocarpus altilis), ein beliebtes stärkehaltiges Nahrungsmittel, reich an komplexen          
                               Kohlenhydraten, fettarm, cholesterin- und glutenfrei